Zivilisationsbruch
Zivilisationsbruch beschreibt den Zusammenbruch von Rechtsstaatlichkeit, Vernunft, Moral und zivilisierten Handeln. Der Begriff wird dazu genutzt, um die Verbrechen der NS-Diktatur zu beschreiben. Denn der Holocaust war ein System bzw. Maschinerie, welche lediglich dem Zweck diente, Menschen zu vernichten. Demnach wurden die Grundfesten der Zivilisation erschüttert. Gleichzeitig soll der Begriff auch eine Erinnerungskultur anstoßen und die Verdrängungskultur (bis 1970-er Jahre) beseitigen.
Inhalt
- 1 Steckbrief
- 2 Was bedeutet Zivilisationsbruch
- 3 Warum war der Holocaust ein Zivilisationsbruch
- 4 Warum ist die Zivilisationsbruch-These so besonders
- 5 Wie wurde der Zivilisationsbruch möglich
- 6 Welche Folgen hatte der Zivilisationsbruch
- 7 Wann begannen die Deutschen den Zivilisationsbruch zu begreifen
- 8 Chronologische Geschichte des Zivilisationsbruchs
Steckbrief
Bedeutung: | systematische Vernichtung der Juden durch den NS-Staat |
Begriffsursprung: | Dan Diner |
Merkmale: | Entmenschlichung und Dämonisierung der Juden, Versagen von Moral und Rechtsstaat, Staatliche Planung und Bürokratie des Vernichtungsapparats, Gesellschaftliche Akzeptanz und Mitläufertum |
Folgen: | Definition der Genozid-Konvention, Formulierung der Allgemeinen Menschenrechte, Gründung des Staates Israel, aktive Erinnerungskultur in Deutschland und besetzten Nachbarstaaten, Kritik an der modernen Bürokratie, Holocaustforschung, Forderung nach einem "Nie wieder" (Moralischer Imperativ) |
Was bedeutet Zivilisationsbruch
Als Zivilisationsbruch bezeichnet man den systematischen Massenmord an europäischen Juden durch die Nazis. Andere Bezeichnungen sind Holocaust oder Schoa. Doch anders als die beiden letzteren Begriffe suggeriert der Zivilisationsbruch-Begriff, dass die Nazis mit den zivilisierten Prinzipien des Zusammenlebens gebrochen haben. Und zwar auf moralischer, ethischer und auf rechtsstaatlicher Ebene.
Warum war der Holocaust ein Zivilisationsbruch
Der Holocaust war ein Zivilisationsbruch, da ein hochentwickelter Staat die Vernichtung eines Volkes plante und durchführte.
Anders als bei jedem anderen Völkermord der Geschichte war, dass sämtliche Verwaltungsstrukturen des Staates auf diese Vernichtung hinarbeiteten. So gab es eine Justiz, eine Verwaltung, eine Medizin und eine Industrie – welche sich der Judenvernichtung verschrieben hatten.
Alles im NS-Staat wurde auf diese Vernichtung ausgerichtet. Man kann sagen, dass der Nazi-Staat ein Judenvernichtungsstaat war, dessen Daseinsberechtigung darin bestand, das jüdische Übel aus der Welt zu schaffen.
Warum ist die Zivilisationsbruch-These so besonders
Der Begriff des Zivilisationsbruchs geht auf den deutsch-israelischer Historiker Dan Diner zurück. Dieser nutzte den Begriff, um die Sinnlosigkeit des Holocaust zu beschreiben. Denn laut Diner verfolgten die Nazis mit dem Holocaust kein übergeordnetes Ziel, welches sich militärisch oder politisch erklären lässt.
Die Juden wurden einzig und allein deswegen vernichtet, weil es Juden waren. Das Ziel der Nazis war die Vernichtung des jüdischen Lebens der Vernichtung wegen.
Die Shoa unterlag keiner Rationalität und keiner Zweckorientierung. Selbst frühere Grausamkeiten, wie die Sklaverei oder die Kolonialherrschaften folgten einem Zweck und lassen ein Muster erkennen.
Der Holocaust lässt keine Zweckmäßigkeit erkennen, weshalb einzig der Vernichtungszweck übrig bleibt. Dadurch wurden Grundannahmen an die menschlichen Natur zerstört, genauso wie das Vertrauen in die Menschheit. Denn die Shoa machte es tatsächlich möglich, dass der Mensch sich gegen seine eigene Art wandte und das ohne erkennbaren Zweck.
Demnach könnte es durchaus möglich sein, dass der Mensch sein eigenes Überleben mit seinem Handeln wieder riskieren könnte. Das wurde bis dahin für nicht möglich gehalten. Der Holocaust zeigte, dass diese Gewissheit nicht gelte – wodurch heutige Gewissheiten ebenfalls nicht gelten (z.B. Atomwaffen-Tabu).
Laut Diner war der Holocaust ein nicht vergleichbarer Akt, für den es keinen Präzedenzfall gab und gibt. Es handelt sich demnach um eine Singularität der Geschichte. Und diese Einzigartigkeit hat der Holocaust nicht durch seine Brutalität erreicht, sondern deshalb, weil der Akt völlig von historischen Mustern entkoppelt ist.
Wie wurde der Zivilisationsbruch möglich
Möglich wurde der Zivilisationsbruch durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, Umstände – welche von den Nazis geschickt herbeigeführt, immer wieder angestoßen und in ein ideologisches System eingebettet wurden.
Ideologische Ursachen
Der Nationalsozialismus war antisemitisch, rassistisch und völkisch autoritär. Die Ideologie dahinter war, dass es eine Herrenrasse gäbe, welche von Natur aus zur Herrschaft bestimmt sei. Damit meinten die Nazis sich selbst und alle anderen Mitglieder einer arischen Rasse.
Alle anderen Menschen, vor allem die Juden und Jüdinnen, gehören zu einer unterwürfigen und niederträchtigen Rasse. Doch diese Rasse hatte es geschafft, bestimmte Vorteile zu nutzen und so die Kontrolle über Finanzen und Wirtschaft zu gewinnen. Die Nazis versprachen den Mitgliedern der arischen Rasse den Wiederaufstieg ihrer Identität, indem sie das Judentum auslöschen würden.
Neuer Zivilisationsbegriff
Im Grunde genommen, gelang den Nazis der Zivilisationsbruch nur, weil sie einen eigenen Zivilisationsbegriff prägten. Und in ihrer neu ausgelegten Zivilisationsdeutung war kein Platz für Juden.
Die Nazis schufen ein Gesellschaftsbild, in welchem der Jude als Feind der Zivilisation dargestellt wurde. So wurden die Juden zu Menschenfressern, Kindesentführern, Brunnenvergifter und zu Verschwörern gegen die Zivilisation stigmatisiert. Sie wurden als Feinde der Demokratie und des Volkes dargestellt, welche eine bolschewistische Revolution unterstützen und einen gesellschaftlichen Umsturz antreiben wollten.
Laut der Nazi-Ideologie waren die Nationalsozialisten dazu bestimmt, die Zivilisation vor dem jüdischen Umsturz zu schützen.
Religiöse Ursachen
Jede Ideologie ist ein Glaubenssystem. Doch anders als bei Religionen steht kein göttliches Wesen im Zentrum dieser Weltanschauung. Anstelle von Gott treten große Führungspersönlichkeiten, wie Adolf Hitler oder Benito Mussolini, ins Zentrum der Weltanschauung.
Doch genauso, wie in den Weltreligionen, werden diese Führer zu Propheten erklärt, welche die neue Weltanschauung als erstes erkannten und verbreiten sollten. Sie werden zum Messias erklärt, welche die Welt vom Übel befreien und die Menschheit erlösen sollen.
Ideologien sind demnach Religionen ohne Gott, aber mit gleichen Grundstrukturen. So wird Adolf Hitlers Werk „Mein Kampf“ zur Heiligen Schrift und der Verfasser zum Propheten, Bewahrer und Erlöser erhoben. Die Gebote in der Bibel werden durch NS-Gebote ersetzt:
- Du sollst dem Führer folgen (Führerprinzip)
- Du sollst für das Volk und die Rasse leben
- Du sollst die Schwachen ausmerzen
- Du sollst kämpfen und sterben für das Vaterland
- Du sollst keine andere Weltanschauung dulden
Das Christenkreuz, welches sich jahrhundertelang bewährt hatte, um Menschen in ganz Europa anzuführen, wurde ersetzt. An seine Stelle trat das Hakenkreuz. Folgten die Menschen im Mittelalter noch einem christlichen Weltführer mit Kreuz, so folgten sie in Nazi-Deutschland ihrem neuen Führer mit Hakenkreuz.
Der NS-Diktatur war es gelungen, die Ideologie als Glaubenssache in die Köpfe der Menschen zu bekommen, wodurch sich Ethik, Moral und Zivilisationsgespür neu definieren ließen.
Monotheistische Ursachen
Das Glaubenssystem der Antike war der Polytheismus, also der Glaube an viele Götter. Am Ende der Antike stieg das Christentum und der Islam als beherrschende Religionen auf.
Beide Religionen stellten nur einen Gott (Monotheismus) in den Mittelpunkt ihrer Weltanschauung. Und beide Religionen waren Verkündungsreligionen, welche durch Missionierung stets neue Mitglieder gewinnen wollten. Jene Missionierung erfolgten mitunter friedlich, aber oftmals auch durch Zwang. So war das Frühmittelalter geprägt durch Zwangschristianisierung in Europa und durch Zwangsislamisierung im Nahen Osten und Westasien.
Der Grund für diese zwanghaften Missionierungen war, dass beide Religionen behaupten, dass Gott auf ihrer Seite stehe. Dies ist höchst verführerisch. Denn wer Gott auf seiner Seite hatte, war immer im Recht.
Die Anhänger des wahren Gottes konnten den Anspruch auf Anstand und Moral erheben. So war es im Mittelalter keineswegs verwerflich, Menschen öffentlich hinzurichten. Auch die Foltermethoden der Inquisition waren im Mittelalter moralisch korrekt. Denn was wir heute Moral nennen, wurde im Mittelalter durch den Wertekanon der Kirche ausgegeben und abgleitet.
Und genau diese Glaubensgrundlage, wussten die Nazis für sich zu nutzen. Sie machten den Führer zu einer gottähnlichen Institution, welcher die wahre Antwort auf alle Fragen hatte. Somit hatten die Nazis das Recht auf ihrer Seite und standen, ihres Vernehmens nach, auf der richtigen Seite der Geschichte.
Die Führungsfigur konnte eine neue Moral und Ethik aufsetzen, welche ins neue monotheistische Ideenbild passte. Und jene neue Moral sah den Arier in einer Führungsrolle und machte den Juden zum Untermenschen.
Das Prinzip war das Gleiche wie im Mittelalter. Denn auch Ketzer und angebliche Hexen wurden aus rein moralischen Gründen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Neu war im Naziregime, dass man die Verfolgung und Vernichtung auf ganze Bevölkerungsgruppen ausweitete und industriell betrieb.
Humanistische Ursachen
Zur Nazizeit war der christliche Monotheismus zwar nicht tot aber schon deutlich ins Hintertreffen geraten. Denn in der Renaissance kam eine neue Form des Monotheismus auf, welcher bis heute andauert. Diese nennt sich Humanismus.
Im Zentrum der humanistischen Ideologie bzw. Religion steht der Mensch. Die Renaissance-Humanisten und später die Vertreter der Aufklärung erklärten, dass der Mensch etwas Gottähnliches sei. Sie erhoben ihn über den Rest der Tierwelt und machten ihn besser als seine tierischen Verwandten.
Laut Humanisten wohnt in jedem Mensch ein Seelenstück, was sie als menschliche Natur beschreiben. Und diese menschliche Natur bewirkt, dass nur der Mensch zu Vernunft, Eingebung und Kultur fähig ist. Dies hebt ihm vom Rest der Tierwelt ab und macht ihn besonders.
Doch im Humanismus bildeten sich im 18. und 19. Jahrhundert zwei Strömungen heraus, welche das 20. Jahrhundert ideologisch bestimmen sollten. Die erste Strömung war der sozialistische Humanismus. Anhänger dieser Ideologie glauben, dass alle Menschen gleich sind. Somit wäre jeder Mensch, egal welcher Religion oder Staatsangehörigkeit er angehört, etwas Gottähnliches. Anhänger dieser Religion sind Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten. Sie wollen eine Gesellschaft schaffen, in welcher alle Menschen gleich sind und klassenlos zusammenleben.
Das Gegenstück zum sozialistischen Humanismus ist der evolutionäre Humanismus. Deren Anhänger glauben, dass nicht jeder Mensch gottähnlich ist. Stattdessen gibt es eine auserwählte Rasse, welche über andere Rassen herrschen sollte. Eine klassenlose Gesellschaft, wie es die Kommunisten wollen, kann es geben. Allerdings muss sich diese Klassenlosigkeit auf die gottähnlichen Menschen beschränken.
Entmenschlichung
Für die Nationalsozialisten waren nur die Arier gottähnlich, da deren Kultur über den Errungenschaften aller anderen Kulturen stand.
Verschiedene Konzepte, wie der Sozialdarwinismus und die Rassenlehre, knüpfen an den evolutionäre Humanismus an. So gilt das Recht des Stärkeren in der Natur genauso wie in einer Gesellschaft. Und da die arische Rasse der jüdischen überlegen war, hatten Erstere alle Rechte und Letztere wurden entrechtet.
Die neue Glaubensordnung des evolutionäre Humanismus, welche auf den Grundpfeilern des Monotheismus erschaffen wurde, machte diese Entrechtung einzelner Bevölkerungsgruppen moralisch möglich. Anders noch: Die Nazis glaubten, dass sie – aufgrund ihrer menschlichen Natur, dazu verpflichtet seien – die Juden zu entrechten und später zu vernichten.
Moralische Entwertung
Was wir heute als Moral empfinden, wurde erstmals in den zehn Geboten im Alten Testament bzw. im Tanach definiert. Diese Gebote waren Verhaltensregeln, um ein zivilisiertes Zusammenleben zu garantieren.
Eines dieser Gebote ist das Mordverbot, welches lautet: „du sollst nicht töten“. Weitere Gebote sind das Diebstahlsverbot und das Begehrungsverbot („Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“). Mit diesen Geboten konnten die Nazis brechen, da sie die Juden kollektiv aus der Gemeinschaft ausschlossen und entmenschlichten.
Das bedeutet, dass sie durch Ideologien den Glauben erzeugten, dass Juden keine gleichrangigen Menschen seien. Sie wurden zwar nicht zu Tieren erklärt, aber zu Untermenschen. Durch den Ausschluss aus der Gesellschaft, galten die Gebote nicht mehr. Stattdessen wurde für Juden ein neuer moralische Umgang definiert.
Möglich wurde dies, indem man Neid, Habgier und Angst schürt. Außerdem kam ein Prinzip zum Tragen, welches seit der Antike funktionierte: Teile und Herrsche.
Sähen von Neid und Angst
Entmenschlichung wird immer dann möglich, wenn man Neid und Angst, in einer Bevölkerung säht. Dadurch wird eine Gesellschaft gespalten, wodurch Herrschaft über einzelne Bevölkerungsgruppen leichter möglich wird. Die ängstlichen, neidischen und frustrierten Bevölkerungsgruppen lassen sich dann dazu motivieren, etwas Neues zu wagen und auch Grenzen zu überschreiten.
So erzeugten die Nazis die Angst vor jüdischen Attentaten, Morden, Kindesentführungen und Vergewaltigungen. Und ganz schnell ließen sich die Deutschen dazu motivieren, dass man den Juden ihre Rechte nimmt.
Teile und Herrsche
Seit der Antike gilt das Prinzip „Teile und Herrsche“. So gingen die Römer vor, als sie Gallien oder Germanien unterwerfen wollten. Und so gingen die Kolonialmächte vor, als sie ihre Kolonien in Besitz nahmen.
Die Herrscher gingen immer gleich vor. Sie studierten die heimische Bevölkerung und machten marginale Unterschiede zwischen ihnen aus. Dann statteten sie ein Teil der Bevölkerung mit Privilegien aus, wodurch diese gegenüber dem Rest aufstiegen. So brachte man einen Teil der Bevölkerung hinter sich, welche nun zu Feinden der anderen Bevölkerungsgruppen wurden.
Dass Afrika heute ein Kontinent mit dauerhaften Bürgerkriegen zwischen den heimischen Ethnien ist, hat mit der Teile-und-Herrsche-Politik der Kolonialmächte und deren späteren Abzug zu tun.
Die Nazis nutzten das Teile-und-Herrsche-Prinzip auf die gleiche Weise. Sie erhoben die arische Rasse zur Herrenrasse und versprachen den Ariern den Wiederaufstieg.
Gleichzeitig machten sie durch Propaganda und Hetze deutlich, dass dieser Wiederaufstieg nur durch einen Abstieg der herrschenden Klasse möglich sei. Und zu dieser herrschenden Klasse gehörten, laut den Nazis, die Juden. Denn diese kontrollierten die Finanzen, waren also Inhaber von Banken und die Juden hatten Geschäfte und Immobilien.
Nun erzählten die Nazis der deutschen Bevölkerung, dass ihre Armut und ihr gesellschaftlicher Abstieg eine direkte Folge des jüdischen Aufstiegs sei. So wurde die deutsche Bevölkerung geteilt, gegeneinander aufgehetzt und die Juden schließlich zu Sündenböcken erklärt.
Dämonisierung
Die Dämonisierung der Juden war bereits in der Antike etabliert. Juden wurden im Mittelalter bereits als Weltverschwörer und Brunnenvergifter bezeichnet. Die Nazis griffen dieses Narrativ auf und betteten es in ihren Propaganda-Apparat ein.
NS-Medien – allen voran das Hetzblatt Der Stürmer – verbreiteten antisemitische Karikaturen und Texte, die Juden als „parasitäre“, „bösartige“ und „gefährliche“ Wesen darstellten.
Die Juden wurden allgemein als Krankheit beschrieben, welche es auszurotten galt. Weiterhin wurden Juden bestimmte Eigenschaften, wie eine kollektive Verderbtheit, Heimtücke oder Gefühllosigkeit nachgesagt. Jene Eigenschaften wurden nicht einzelnen Personen zugeschrieben, sondern als angeborene Grundeigenschaften aller Juden hervorgehoben.
Ziel war es, die jüdische Bevölkerung als dämonisch und unmenschlich darzustellen. Man sollte Angst vor Juden haben, so dass der Jude zu etwas Unmenschlichen wird, welches man aus der Bevölkerung eliminieren müsse.
Rechtsstaatliche Ursachen
Die Dämonisierung der Juden führte letztlich dazu, dass die deutsche Bevölkerung es als moralisch richtig empfand, die Juden auszugrenzen. So wurden Juden aus Schwimmbädern und öffentlichen Einrichtungen ausgeschlossen. Entsprechende Gesetze wurden von den Deutschen mitgetragen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Juden erhielten ein Berufsverbot.
Schließlich durften sich Arier auch nicht mehr mit Juden abgeben. Mischehen zwischen Juden und Arier wurden als Rassenschande verurteilt. Der Jude wurde als parasitäres Phänomen dargestellt, welches die Gesellschaft ausbluten lässt. Gleichzeitig wurde immer wieder davon gesprochen, dass die Reinheit des deutschen Blutes durch die Juden gefährdet sei. Die Nürnberger Rassengesetze sollten den Umgang und die Endlösung der Judenfrage klären.
Welche Folgen hatte der Zivilisationsbruch
Der Holocaust und der damit definierte Zivilisationsbruch führte dazu, dass die NS-Verbrechen juristisch und auch kulturhistorisch aufgearbeitet wurden. Denn solch einen Akt konnte die Weltgemeinschaft nicht als ungünstiges Ereignis abtun. Es brauchte neue juristische Begriffe, um die Ausmaße zu beschreiben. Außerdem musste eine Erinnerungskultur etabliert werden, welche die Deutschen und auch die ganze Menschheit darin erinnert, dass so etwas „Nie wieder“ geschehen darf.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kriegsverbrechen der Nazis und der Holocaust juristisch aufgearbeitet. Dies fand durch die Nürnberger Prozesse statt. Während der Prozesse wurde die Massenvernichtung in Konzentrationslagern als „crime against humanity“ (Verbrechen gegen die Menschheit) erstmalig erwähnt.
Anders als beim Völkermord muss bei diesen Verbrechen keine religiöse, nationalistische oder kulturelle Ursache nachgewiesen werden, um Straftäter verurteilen zu können. Einzig der Tatbestand, dass sich diese Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung richteten, reicht aus.
Genozid-Konvention
Eine Folge des Holocausts war, dass der Begriff des Völkermordes neu und exakt definiert wurde. Es reichte nicht aus, diese Verbrechen als Massenmord, Massaker oder Gräueltaten abzutun. Denn diese Begriffe könnten suggerieren, dass die Taten unwillkürlich, zufällig oder ungerichtet erfolgt seien.
Die Genozid-Konvention sollte solche Zweifel aus dem Weg schaffen. Deshalb wird Genozid heute als zielgerichteter und systematisch durchgeführte Akt einer Massenvernichtung beschrieben, welcher das Ziel verfolgt, ein Volk – aufgrund seiner Nationalität, Religion oder Kultur – auszulöschen.
Gründung Israels
Der Staat Israel wurde 1948 gegründet. Die Holocaust-Verbrechen trieben dieses internationale Projekt voran. Der Staat war als Zufluchtsort für Juden gedacht. Alle Juden dieser Welt sollen durch den Staat Israel zukünftig geschützt werden.
Erinnerungskultur
Gedenkstätten, Mahnmale und Bildungsprogramme entstanden, um das Geschehene zu bewahren und zu reflektieren. Weiterhin besteht eine gesellschaftliche Verpflichtung aller Deutschen, die Vergangenheit zu bewahren, daraus zu lernen und jüdisches Leben weltweit zu schützen.
Der Schutz aller Juden wurde zur deutschen Staatsräson. Dies geht über eine nationale Verantwortung hinaus. Demnach besteht ein Teil der Daseinsberechtigung des heutigen deutschen Staates nur darin, jüdisches Leben weltweit zu schützen. Die Welt hat den Deutschen verziehen, weshalb Deutschland seitdem eine besondere Verantwortung trägt.
Nie wieder und moralischer Imperativ
Nie wieder ist ein Moralischer Imperativ. Der Moralische Imperativ ist eine universelle Regel für moralisches Handeln, welche immer gilt und welche nicht von persönlichen Interessen oder Zielen abhängig ist bzw. beeinflusst werden kann. Demnach bedeutet „Nie wieder“, dass Alles getan wird, um einen neuen Zivilisationsbruch zu verhindern.
Die Forderung nach einem „Nie wieder“ ist heute die kraftvollste Formel der Erinnerungskultur und bringt Antifaschismus auf einen simplen Kern: Nie wieder bedeutet Nie wieder. Es reicht nicht eine trauernde oder mahnende Haltung einzunehmen, sondern man muss aktiv gegen Faschismus und Antisemitismus vorgehen.
Der Ursprung der „Nie-wieder-Formel“ geht auf die Buchenwald-Befreiung am 19. April 1945 zurück. Kurz nach der Befreiung versammelten sich Überlebende und riefen in einem feierlichen Gelöbnis: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“
Dieser Schwur wurde das ethische Fundament der Nachkriegszeit. Bis heute werden Gedenkveranstaltungen, Mahnmale und politische Reden mit dieser Schwurformel geprägt.
Wann begannen die Deutschen den Zivilisationsbruch zu begreifen
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Deutsche Reich geteilt. Fortan gab es ein geteiltes Deutschland mit BRD und DDR. Westberlin war ein Stadtstaat unter internationaler Beobachtung.
DDR-Aufarbeitung
In der DDR erfolgte die Aufarbeitung des Holocausts, indem man den NS-Staat als eine Zuspitzung eines kapitalistischen Systems der Ausbeutung inszenierte. Demnach wurde der Holocaust als eine Weiterentwicklung einer modernen Sklavenhaltergesellschaft begriffen. Im Schulunterricht der DDR wurde mehr an den Widerstand gedacht und die jüdischen Opfer vernachlässigt.
Zwar wurde der Holocaust nicht bestritten, aber nicht als eigenständiges Ereignis gesehen und vermittelt. Stattdessen wurde von einem faschistischen Vernichtungskrieg gesprochen, welcher die Kommunisten, Ausländer und Juden gleichermaßen einbezog.
Eine pluralistische Debatte zu Antisemitismus, Rassismus, Faschismus und der eigenen Mitverantwortung fehlte. Stattdessen machte man in der DDR den Westen für den Faschismus verantwortlich und errichtete den antifaschistischen Schutzwall.
BRD-Aufarbeitung
In der BRD setzte man auf Verdrängung. Man wollte nach vorne schauen und eine Holocaust-Debatte fand im öffentlichen Raum nicht statt. Zwar gab es die Entnazifizierung nach dem Krieg. Doch viele NSDAP-Politiker blieben dennoch im Amt.
In der Nachkriegszeit setzte man darauf, ein kaputtes Land wieder aufzubauen. Und in den 1950-er und 1960-er Jahren war man mit dem Wirtschaftsboom so sehr beschäftigt, weshalb man sich wenig mit der Vergangenheit beschäftigte.
Die rosarote Brille in der BRD zerbrach 1979 durch die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“.
Die Serie erzählt die Geschichte der jüdischen Arztfamilie Weiss während der NS-Zeit. Bevor die Serie ausgestrahlt wurde, war deren Ausstrahlung stark umstritten.
Im Januar 1979 erschien die Pilotfolge. Erstmalig wurde die breite Masse der Deutschen emotional vom Holocaust berührt. Nach den Ausstrahlungen der Folgen wurde ein Zuschauertelefon geschalten, bei dem sich aufgebrachte Zuschauer zu Wort melden durften.
Das Zuschauertelefon war Open End geschalten und insgesamt wurden über 23.000 Anrufer registriert. Erstmalig setzten sich die Westdeutschen mit ihrer NS-Verantwortung aktiv auseinander.
In der Folge wurden Debatten im Bundestag zur Fernsehserie geführt. Man sprach auf Arbeit darüber, genauso wie bei Freunden. Die Bundeszentrale für politische Bildung druckte Broschüren zum Thema Nationalsozialismus und Antisemitismus, welche zu Hunderttausenden nachgefragt wurden.
Die US-Fernsehserie wurde zur medien- und erinnerungsgeschichtlichen Zäsur. Durch die Fernsehserie wurde die passive Verdrängungskultur der Westdeutschen in eine aktive Erinnerungskultur gewandelt.
Chronologische Geschichte des Zivilisationsbruchs
Datum | Ereignis |
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30. Januar 1933 | Adolf Hitler wird Reichskanzler |
Februar/März 1933 | Reichstagsbrand und Notverordnung schaffen die Grundlage für den autoritären NS-Staat |
23. März 1933 | Durch das Ermächtigungsgesetz wird die Weimarer Republik zur Diktatur |
April 1933 | Boykott jüdischer Geschäfte und Beginn der systematischen Ausgrenzung (Verbotsschilder für Juden, Schilder mit der Aufschrift "Kauf nicht bei Juden") |
Mai 1933 | Verbot der Gewerkschaften und Bücherverbrennungen |
Juli 1933 | NSDAP wird zur einzigen zugelassenen Partei (Einparteiendiktatur) |
1935 | Nürnberger Gesetze definieren, was „jüdisch“ ist und verbieten „Mischehen“ |
November 1938 | Novemberpogrome („Reichskristallnacht“): Synagogen brennen, jüdische Geschäfte werden zerstört, Tausende werden verhaftet und hunderte werden ermordet |
ab 1941 | Beginn der „Endlösung der Judenfrage“: es folgen Deportationen in Ghettos und Konzentrationslager |
Ab 1942 | Industrielle Massenvernichtung in Vernichtungslagern wie Auschwitz |