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Jenseits


Das Jenseits ist ein Ort, Raum oder Konzept außerhalb der Wahrnehmung und Naturwirklichkeit, welches als Gegenstück zum Diesseits fungiert. Weiterhin ist das Jenseits ein Synonym für Himmelreich, dem Reich Gottes bzw. im Polytheismus ein Herrschaftsbereich der Götter, an denen übersinnliche Phänomene auftreten können und die Naturgesetze durch Gotteswerk überwunden werden.

Die Geschichte vom Jenseits beginnt mit der Mythologie in der Urgeschichte, verändert sich in der Antike entscheidend und mündet in eine neue Jenseitsvorstellung im Mittelalter (Christentum, Islam).

Historische Entwicklung des Jenseits

Dass die Menschheit bereits in der Steinzeit an ein Jenseits glaubte, wird angenommen. Eine echte Teilung der Welt – mit einem Diesseits und einem Jenseits außerhalb davon – gab es wohlmöglich noch nicht. Dies erfanden erst die Christen in der Spätantike bzw. im Frühmittelalter.

Altsteinzeit

Es ist erwiesen, dass die frühen Menschen ihre Toten bestattet haben. Der Neandertaler tat es und der Jetztmensch (Cro-Magnon-Mensch) tat es ebenfalls. Aufgrund dieser Tatsache geht man davon aus, dass die Steinzeitmenschen eine Vorstellung von einer Totenwelt hatten.

Allerdings war das ursprünglichste Glaubenssystem der Animismus, basierend auf Naturgeistern und einer komplett belebten Welt. Demnach glaubten die Menschen, dass der Wind etwas Lebendes ist, genauso wie jedes Tier. Und die Toten waren ein Teil dieser Welt. Demnach war die Totenwelt eine Welt im Diesseits. Die Menschen glaubten, dass die Toten unter ihnen wandeln.

Auch eine Götterwelt war anfangs noch nicht erdacht, da Götter in der Altsteinzeit keine Probleme lösen konnten. Denn die ersten Menschen lebten in der Natur, waren besitzlos und an keinen Ort gebunden. Wenn das Jagdwild abwanderte, zogen die Jäger einfach hinterher. Und wenn ein Flusstal nicht genügend Nahrung abwarf, zog man einfach ins nächste Tal.

Die Menschheit hatte keine Vorstellung von einem vorher und einem nachher. Die Zeit existierte in der Vorstellungskraft nicht. Und demnach gab es auch keinen Zusammenhang zwischen Ursache (vorher) und Wirkung (nachher).

Würde die Menschheit heute noch frei sein und in der Wildnis leben, bräuchte es keine Zeitdimension. Und demnach kam niemand in der Steinzeit auf die Idee, irgendwelche überirdischen Wesen um Hilfe zu bitten, um ein zukünftiges Ereignis zu beeinflussen.

Jungsteinzeit

Die Probleme der Menschheit begannen erst beim Übergang zu Ackerbau und Viehzucht (Neolithische Revolution). Und diese Weltrevolution vollzog sich erst in der Jungsteinzeit. Denn erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Mensch sesshaft und abhängig von Naturereignissen (z.B. Jahreszeiten, Wetter).

Der einst besitzlose Naturmensch war nun ein Bauer und besaß Ackerflächen und Vieh. Falls fortan die Wetterbedingungen für Ackerbau nicht optimal waren, konnte der Bauer nicht einfach alles zurücklassen und weiterziehen. Deshalb studierte die Menschheit den Verlauf der Jahreszeiten, um zwischen Saat und Ernte unterscheiden zu können.

Mit der Erfindung der Zeit wurde auch eine Ursache in der Gegenwart erdacht, welche zu einer bestimmten Ergebnis (Wirkung) in der Zukunft führen sollte. Und falls dieses Ergebnis ausblieb, war der Bauer zunächst mittellos. Doch die Ackerbauern erfanden übermächtige Wesen, welche ihnen wohlmöglich zur Seite stehen würden. Diese Wesen waren die Götter.

Kupferzeit

Am Übergang zwischen Jungsteinzeit und Kupferzeit tauchen die ersten Grabbeigaben auf. Forscher schließen daraus, dass die Menschheit zu diesem Zeitpunkt eine Vorstellung von einem außerirdischen Jenseits gehabt haben könnten. Dennoch gab es weiterhin eine Totenwelt und eine Götterwelt, welche beide zwar in der Welt der Menschen lagen, aber nicht von Lebenden erreicht werden konnte.

Eisenzeit

Im Nordwesten des heutigen Syriens existierte um 2200 v.Chr. eine Stadt, namens Ugarit. Die Bewohner dieser Stadt verehrten viele Götter (Polytheismus). Ihr höchster Gott war El oder Elohim. Dieser Gott wurde von den Israeliten übernommen und später als Jahwe identifiziert.

Das Land Isra-el trägt den Götternamen heute noch im Landesnamen. Aus dem Kult um El (später Jahwe) entstand dann das Judentum und die israelische Geschichte beginnt ab etwa 1200 v.Chr. (Zwölf Stämme Israels).

In der ugaritischen Mythologie wird El als Schöpfergott erwähnt, welcher mit seiner Frau (Athirat) 70 Kinder hatte. Im älteren Israel galten El und Athirat als Besitzer der Welt. Die 70 Söhne von El waren Götter in Regierungsverantwortung.

Dass die Idee der Gottesgemahlin verschwunden ist, lässt Raum für Spekulationen. So nimmt man an, dass Jahwe auch eine Mischung aus einem unverheirateten Wüstengott aus Nordpalästina und dem Sonnengott El sein könnte. Demnach hätte der biblische Gott seine Söhne und seine Tochter (Šaḥar) vom Jerusalemer Gott und die Ehelosigkeit vom Wüstengott übernommen.

In der hebräische Bibel (Tanach, Altes Testament) wandert die Seele der Toten in die Scheol. Zwar ist im Alten Testament noch von keiner Seele die Rede, aber irgendetwas bleibt vom Toten übrig. Und dieser übriggebliebene Totengeist kann durch Grabpflege und dem Darbringen von Speisen aus dem Totenreich herausgerufen werden. So steht es im Buch Samuel (Sam 1, 28).

In der Religion der Juden ist Totenbeschwörung zwar verboten, aber das Elterngebot (Vater und Mutter ehren) geht über den Tod hinaus.

Bronzezeit

Die Bronzezeit ist der Zeitabschnitt, in welchem die ersten Hochkulturen bzw. Zivilisationen entstanden. Als Wiege der Zivilisation wird das Alte Ägypten und Mesopotamien angegeben. Dort entstanden die ersten Staaten, welche eine große Anzahl an Bewohnern verwalten und koordinieren mussten. Es mussten Hierarchien erfunden werden, welche sich im Götterbild widerspiegeln. Gesetze wurden entworfen, um den Besitz von Einzelnen zu schützen.

Solche Gesetze wurden durch einen König oder Herrscher aufgesetzt. Aber jener Herrschaftsanspruch wurde durch die Götter legitimiert. Demnach war ein König immer ein Diener der Götter. Und die Gesetze, welche der König erließ, stammten von den Göttern. Demnach waren die Götter immer noch ein Teil der menschlichen Welt und des Jenseits. Ein außerirdisches Jenseits existierte in der frühen Bronzezeit immer noch nicht.

Aber das Götterbild musste angepasst werden. Denn die Gesetze, die von den Göttern entworfen worden, müssen allseitige Akzeptanz finden. Demnach muss der Bauer im Flusstal an den selben Gott glauben, wie der Hirte im Bergland. Ansonsten hätten die Gesetze der Götter keine bzw. unzureichende Wirkung gehabt und der Übergang zur Zivilisation hätte niemals stattfinden können.

Dass die Götter in einer Himmelswelt leben könnten, war wohlmöglich in Ägypten zur Bronzezeit präsent. Denn im sogenannten Alten Reich des Alten Ägyptens (ca. 2707–2216 v. Chr.) wurden die ersten Pyramiden erbaut. Historiker gehen davon aus, dass die Pyramiden als Himmelsleitern gedacht waren. Der König war Mittler zwischen beiden Welten.

Einer der Hauptgötter in der ägyptischen Mythologie war Horus, welcher als Falke dargestellt wurde. Der Falkenflügel diente wohlmöglich als göttliches Symbol für die Himmelsgottheit. In den Pyramidentexten wird immer wieder auf diese Falken-Symbolik hingewiesen. Deshalb geht man davon aus, dass die Ägypter glaubten, dass die Königsmacht im Himmel und auf der Erde existierte.

Antike

In der Antike glaubten die Menschen an Zeus als unbestrittenen König über alle Götter. Dieser lebte auf dem Olymp, dem höchsten Berg von Griechenland. Umgeben war Zeus von anderen Göttern, alle menschenartig und unsterblich. Tief unten in der Erde gab es ein drittes Reich, die Unterwelt.

Dreiteilung der Unterwelt

Die Unterwelt der griechischen Mythologie wird als Reich des Hades bezeichnet. Dort wurde ein Totengericht abgehalten und die Frevler mussten nach Tartaros, in die tiefste Region – in der unheimliche Gestalten lebten. Dort sollten sie Qualen erleben.

Das Gegenstück zu Tartaros war Elysium, der Ort für die Glückseligen. Auch dieser Ort befindet sich zunächst in der Unterwelt.

Als dritter Ort der Unterwelt wird Limbus erwähnt. Das ist der Ort der Trauer, wo sich unglückliche Tote befinden (früh verstorbene Kinder, Selbstmörder, zu Unrecht Verurteilte).

Der Eingang zur Unterwelt

Den Eingang zur Unterwelt soll Aeneis in der Nähe des Averner Sees (bei Neapel) gefunden haben (lt. Vergil). Doch der Eingang war zunächst verschlossen. Mit der Priesterin Sibylle von Cumae soll er einen Zugang gefunden haben, indem er solange Opfertiere schlachtete bis die Göttin Hekate (Wächterin der Schwelle zwischen den Welten) ihm öffnete.

Aeneis kehrt daraufhin in die Unterwelt ein und trifft dort seine Geliebte Dido, welche sich das Leben genommen hatte.

Umgestaltung von oben und unten

Platon (427 v. Chr. – 347 v.Chr.) gestaltete die Vorstellung vom Jenseits um. Laut Platon sind die Götter mit den Himmelskörpern identisch. Im Dialog Phaidon lokalisiert er das Diesseits und das Jenseits. Die Griechen stellten sich die ihnen bekannte Welt als einen Erdkreis vor. Diesen nannten sie Ökumene (bewohnter Wald). Hinter diese Insel befindet sich ausschließlich Wasser, so die damalige Lehrmeinung.

Laut Platon liegt hinter dem Wasser aber ein neues Land, auf dem Lebewesen existieren und welches höher liegt als die bekannte Welt (Oikumene). Dort existiert auch keine Luft mehr, weil diese nicht so hoch steigt. Stattdessen füllt der Äther die Atmosphäre.

Das Land, welches Platon beschreibt, ähnelt dem Ort der Glückseligen (Elysium). In diese Denktradition traten sämtliche Philosophen nach Platon und auch die Christen. Denn fortan blieb der Ort der Bestrafung (Tartaros) unter der Erde und der Belohnungshort (Elysium) lag über der Menschenwelt.

Von der Gewaltkultur zur Reflexionskultur

Sämtliche Schöpfungsmythen sind mit Gewalt verknüpft. So besiegt Zeus die Titanen und besteigt den Olymp als Alleinherrscher. Im Babylonischen Schöpfungsmythos (Enuma elisch) überwältigt Marduk den riesenhaften Drachen Tiamat und schafft so eine Ordnung, welche auf Gewalt beruhte.

Die nordische Mythologie kennt das Urwesen Ymir, welcher von riesenhafter Gestalt war. Odin und seine Brüder töten den Riesen und schufen daraus die nordischen Reiche: Midgard, das Meer, die Erde, den Himmel und die Gebirge. Auch Odin gilt als Alleinherrscher, als Tyrann und Weltenschützer, genauso wie Zeus oder Marduk.

Doch die Griechen übernahmen auch Praktiken und Glaubensvorstellungen aus anderen Kulturen. Ein Kontakt bestand zu Ägypten und die Vorstellung von Belohnung und Bestrafung nach dem Tod war attraktiv. Deshalb wurde das Totengericht der Ägypter in der griechischen Mythologie nachgebildet.

Zunehmend wurde die Gewaltkultur durch eine Rechtskultur abgelöst, was zwingend notwendig war – um eine Zivilisation zu erhalten. Und etwa im 5. Jahrhundert v. Chr. setzte in Griechenland eine Reflexionskultur ein. Die Philosophen stellten den Mythos des Jenseits auf einen Prüfstand, der Wahrheitsgehalt wurde angezweifelt und der sokratische Vorbehalt wurde zur gängigen Methodik.

Spätantike und Frühmittelalter

Die Antike endete mit dem Untergang des Weströmischen Reiches (476 n.Chr.). Es entstand ein Machtvakuum und überall taten sich kleine Staaten auf, welche von Despoten geführt worden.

Die Einheitswelt des römischen Reiches war vorüber. Aber sie sollte wieder hergestellt werden. Dies gelang Karl dem Großen im Frühmittelalter als er weite Teile des europäischen Kontinents eroberte und christlich vereinte. Das Christentum wurde zum Einheitsmacher und zum Identifikationsmerkmal der Europäer über das ganze Mittelalter hinaus.

Die Jenseitsvorstellungen des Christentums unterschieden sich deutlich von den antiken Glaubensbildern. In der Antike war das Jenseits ein Ort, welcher in der physischen Welt der Menschen lag. Das Totenreich und das Götterreich konnten Menschen zwar nicht einfach so erreichen, aber es lag immer noch in ihrer Welt. Doch die Lehren des Christentums verschoben das Jenseits endgültig in eine außerirdische Dimension.

Christliche Jenseitswelt

Im mittelalterlichen Christentum wird das Jenseits als Raum ohne Zeit angegeben. Demnach existiert eine Ewigkeit und der Tote taucht in diese Ewigkeit ein. Dessen Seele ist unsterblich. Nach der Auferstehung erhält die Seele nicht den alten verwesten Körper zurück, sondern einen himmlischen Körper.

Weiterhin betont das Christentum ein jüngstes Gericht (vgl. Rechtskultur der Antike), bei dessen Urteilsschluss über Himmel (vgl. antike Elysium) und Hölle (vgl. antike Tartaros) entschieden wird.

Laut christlichen Volksglauben existiert zudem ein Vorstufe zum Himmelreich. Dort gelangen die Seelen aller Verstorbenen hin, bevor diese von Engeln ins Himmelreich (Jenseits) geholt werden. Dass dieses Jenseits oberhalb des Diesseits liegen muss, geht auf Platons Phaidon zurück (siehe Abschnitt oben).

In dem Zwischenraum warten die Seelen in ihrem Himmelskörper auf das Gottesgericht. Jede Seele unterzieht sich der Gnade Gottes. Das bedeutet, dass sie Buße tut und dadurch Vergebung erlangt. Die von Sünden gereinigte Seele, gilt danach als erlöst und darf dann das Himmelreich passieren.

Hölle und Verdammnis

Hölle und Verdammnis tauchen erst mit dem Neuen Testament auf. Zwar wird in der Lutherübersetzung des Alten Testaments ebenfalls die Hölle erwähnt, aber gemeint war die Totenwelt. Beeinflusst wurde die biblische Hölle durch das ägyptische Totengericht, welches auch die Griechen übernahmen. Die Ägypter glaubten, dass direkt nach dem Tod ein Totengericht tagt. Als Richter treten ein Gott oder mehrere Götter auf. Die Entscheidung des Gerichts fällt sofort und lautet entweder ewiges Leben im Jenseits oder die qualvolle Vernichtung im Feuersee.

Im Neuen Testament spricht Jesus von einem Ort, namens Gehenna als Bestrafungsort. Dieser Ort lag in der Nähe von Jerusalem und dort wurden wohlmöglich Kinder geopfert. Die heidnischen Opferfeste wurden von den Israeliten scharf kritisiert. Demnach ist die Hölle eine Erfindung der ägyptischen Mythologie und die jüdische Mythologie lieferte die Bezeichnung.

Ewige Leben im Jenseits

Im Buch der Offenbarung (Apokalypse, 150 n. Chr.) wird das Gottesgericht passend beschrieben. Auch tritt nicht Gott als Richter auf, sondern Jesus Christus. Auch dies ist aus der ägyptischen Mythologie entnommen. Die Totenrichter der Ägypter waren Anubis und Osiris. So wurde Osiris von seinem Gegner Seth ermordet, lebt aber im Jenseits als Totenrichter weiter.

Und der altägyptische Anubis besitzt die Schlüssel zum Totenreich und wandert zwischen beiden Welten. Dieser Schlüssel ist gleichzusetzen mit dem altägyptischen Henkelkreuz, auch als Ankh oder Anch-Zeichen bekannt. Es steht als Symbol für das Weiterleben im Jenseits.

Im Buch der Offenbarung (Offb 1, 17) kündigt Jesus an, dass er der Erste und der Letzte ist. Weiterhin beteuert Jesus, dass er die Schlüssel zum Totenreich hat (Off 1, 18). Jener Schlüssel gibt Jesus Christus die Macht, letztlich zwischen Totenreich und Jenseits zu wandern. Das Christentum verspricht daher jedem – welcher sich zu Jesus Christus bekennt und diesem dient, das ewige Leben.

Anders als die Jenseitswelt der Antike, ist die christliche Jenseitswelt nicht erreichbar. Denn Jesus Christus bzw. Gott (Trinität) sind die Einzigen, welche dies können. Konnten die Griechen und Römer theoretisch noch nach einer Jenseitswelt suchen, ist dies im christlichen Glauben unmöglich geworden. Jesus hat demnach das Monopol auf den Eintritt ins Jenseits und das ewige Leben. Dadurch wird das Christentum extrem verführerisch, was dazu führte – dass es im Mittelalter zur Weltreligion aufsteigen konnte.