Alltagsgeschichte
Alltagsgeschichte rekonstruiert das alltägliche Geschehen der Menschen in ganz bestimmten Geschichtsepoche. Dabei wird untersucht, wie sich das Alltagsleben zusammensetzte, veränderte und welche Einflussfaktoren bzw. Geschichtsereignisse sich auf das menschliche Handeln auswirkten.
Inhalt
- 1 Was ist Alltagsgeschichte
- 2 Entstehung der Alltagsgeschichte
- 3 Unterschiede zwischen Geschichte von unten, Geschichte des kleinen Mannes und Alltagsgeschichte
- 4 Weitere Entwicklung der Alltagsgeschichte
- 5 Alltagsgeschichte in Deutschland
- 6 Alltagsgeschichte in anderen Ländern
- 7 Gegenstand bzw. Aspekte der Alltagsgeschichte
- 8 Kritik an der Alltagsgeschichte
- 9 Zusammenfassung
- 10 Literatur
Alltagsgeschichte greift die Frage auf, wie Menschen in früheren Epochen ihren Alltag bestritten und erlebten. Dabei geht es um subjektive Erfahrungen der Menschen. Somit wird der Mensch und sein Wirken zum Beobachtungsgegenstand der Forschung.
Die Alltagsgeschichte beleuchtet dabei recht persönliche Aspekte der Geschichte und wie Erlebnisse Einzelner diese und ihr Umfeld beeinflussen können. Moderne Geschichtsforschung geht davon aus, dass auch andere Bereiche der Geschichte – wie eben das Alltagsleben – einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft leisten. Diese Bereiche werden hauptsächlich von der Alltagsgeschichte beleuchtet und in geschichtlichen Kontext gesetzt.
In Deutschland kam die Alltagsgeschichte Mitte der 1980er Jahre auf. Man bezog sich dabei besonders auf eine 1978 begonnene Bewegung in Schweden: die Geschichte von unten.
Bei der Geschichte von unten geht es unter anderem darum, die eigene, bzw. lokale Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Besonders konzentriert sich diese Bewegung darauf, bisher geschichtlich wenig beleuchtete Personengruppen mehr in den Fokus zu rücken. Speziell soll es darum gehen, wie diskriminierte Gruppen in ihrem Alltag mit ihrer Diskriminierung umgingen.
Daher sind die bevorzugten Quellen der Geschichte von unten die sogenannten „Archive von unten“ sowie Geschichtswerkstätten. In ihnen finden sich Schriftstücke, die von den Menschen regelmäßig genutzt wurden, aber nicht unbedingt wissenschaftliche Ansprüche hatten. Zeitschriften gehören beispielsweise dazu sowie Plakate, Flugblätter und die „graue Literatur“. Darunter versteht man privat Gedrucktes, das für einen begrenzten Kreis an Personen und nicht für die breite Masse gedacht war.
Wichtig dabei ist auch, dass „graue Literatur“ nicht durch Verlage kontrolliert und gegebenenfalls zensiert wird. Sie kann daher auf sehr ehrliche Art und Weise Einblicke in den vergangenen Alltag geben.
In den USA wird Geschichte von unten auch „Grassroots-History“ genannt. Dort war sie schon in den 1960er Jahren verbreitet. Erst mit dem Aufkommen feministisch und gewerkschaftlich geführten Geschichtswerkstätten fand die Geschichte von unten in Deutschland Anschluss. Damit ebnete sie auch den Weg für die Alltagsgeschichte in diesem Land.
Bei der Geschichte von unten werden diskriminierte Personengruppen in den Vordergrund gestellt. Die Alltagsgeschichte verzichtet auf einen gesonderten Blickwinkel bzw. Einschränkung auf eine bestimmte Gruppe. Häufig wird die Alltagsgeschichte auch als Geschichte der „kleinen Leute“, „des kleinen Mannes“ oder des „einfachen Volks“ bezeichnet. Auch dies ist falsch. Denn Alltagsgeschichte beleuchtet nicht nur „die kleinen Leute“ sondern richtet sich auf jeden Menschen und dessen Alltag aus.
Auf Kommandohöhen, Hierarchien, ethnische und kulturelle Hintergründe soll weitestgehend verzichtet werden und stattdessen ein Gesamtbild der persönlichen Einzelwahrnehmung entworfen bzw. rekonstruiert werden.
Die Alltagsgeschichte möchte den Fokus auf die lenken, die bisher kaum geschichtlich erforscht werden. Sie ist damit der Geschichte von unten sehr ähnlich. Sozialgeschichtlich werden auch nur größere Personengruppen zusammengefasst dargestellt. Die Alltagsgeschichte wollte tiefer gehen.
Dafür orientierte man sich an verschiedenen Historikern aus Europa. Carlo Ginzburg, Eric J. Hobsbawm, Emmanuel Le Roy Ladurie und Eward P. Thomspon gehören dazu. Letzterer veröffentlichte 1963 sein bedeutendstes Werk „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“, welches die Geschichte von unten deutlich vorantrieb.
Die Alltagsgeschichte betrachtet die untersuchten Bereiche ohne Traditionalismus und gleichzeitig sehr kritisch. Auf diese Weise soll es dem Historiker möglich werden, die einzelnen Zusammenhänge zwischen den kleinen Gruppen zu erkennen. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, wer genau wen auf welche Art geprägt und zu geschichtlichem Handeln angeregt hat.
Mit dieser Art zu Arbeiten wollte die Alltagsgeschichte ein Gegengewicht zur Sozialgeschichte liefern. Die Sozialgeschichte erklärt Handlungen Einzelner in den meisten Fällen als eine Reaktion auf etwas Großes, bereits Bestehendes. Die Alltagsgeschichte betrachtet hingegen eher die Einflüsse, die Menschen aufeinander haben können.
Erstmals bekam die Alltagsgeschichte in Deutschland 1980/81 eine größere Bühne. Im Rahmen des Geschichtswettbewerbes des Bundespräsidenten, einem seit 1973 alle zwei Jahre stattfindenden Wettbewerb, drang sie bis in die Schulen vor. Ziel bei diesem Wettbewerb war es, dass sich vor allem jüngere Leute mit der Geschichte Deutschlands befassen. In diesen Jahren ging es speziell um den Nationalsozialismus im Alltag.
Schon zuvor kam es einige Male zu einem Aufkeimen der Alltagsgeschichte in Deutschland. 1974 wurde das Römisch-Germanische-Museum in Köln eröffnet, das sich mit der römisch-germanischen Vergangenheit der Stadt beschäftigt. Unter anderem ist dabei auch der Alltag der damals lebenden Menschen wichtig. Das kommt allein schon durch Ausgrabungen zustande. Forscher stoßen dabei immer wieder auf Geschirr, Kleidung oder andere alltägliche Gegenstände. Betrachten wir das Altertum, haben wir also häufig gar keine andere Wahl als Interesse für den damaligen Alltag zu entwickeln.
Dieses Interesse schwappte recht leicht in das Mittelalter und die Frühe Neuzeit über. Für diese geschichtlichen Abschnitte entstanden ebenfalls Museen, die bestimmte Aspekte der Zeit in Zusammenhang mit dem Alltag der Menschen stellten.
Wilhelm Treue, ein deutscher Wirtschafts- und Sozialhistoriker des 20. Jahrhunderts, schrieb mehrere geschichtliche Werke. In ihnen bezog er auch den Alltag der Menschen ein. 1942 sowie 1961 erschienen seine Bücher. Die Alltagsgeschichte darin wurde jedoch kaum beachtet.
Spätestens seit der Wiedervereinigung stellte sich dann auch ein größeres Interesse am Alltag der jüngeren Vergangenheit ein. Das lag auch daran, dass es gar nicht möglich war, den von der Diktatur geprägten Alltag der Menschen in der DDR von der Politik zu trennen. Beim völlig friedlich wirkenden Sandmännchen mag das noch gelingen. Aber schon beim Trabi finden sich schnell die negativen Auswirkungen auf den Konsum in der DDR. Beispiele dafür wären die lange Wartezeit und hohe Kosten.
Diese Zusammenhänge werden im DDR-Museum Berlins und im Museum in der Kulturbrauerei, ebenfalls in Berlin, gezeigt. Außerdem beschäftigt sich das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt mit dem Thema.
In Frankreich ist die Alltagsgeschichte schon länger anerkannt. In den 1920er Jahren befasste sich vor allem die Annales-Schule mit ihr. Ziel war es, eine „histoire totale“, also eine Gesamtgeschichte, zu erschaffen.
Die Annales-Schule bezeichnet eine Gruppe von Historikern des 20. Jahrhunderts. Diese stammen aus unterschiedlichen Generationen und schlossen sich zusammen. Sie entwickelten neue Methoden der Geschichtswissenschaft. So setzten sie den Fokus mehr in Richtung Wirtschaft und Gesellschaft. Außerdem maßen sie der Anzahl, in der sie relevantes Material fanden, mehr Bedeutung zu und betrachteten die übergeordneten Zusammenhänge.
Dass dabei außerdem die „kleinen Leute“ mehr Beachtung fanden, führte zu einer weiteren Neuerung: Protokolle aus Inquisitions- und Ketzerverhören wurden nun genutzt, um aus ihnen alltagsgeschichtliche Details zu lesen.
Eine besondere Form der Alltagsgeschichte betreibt der italienische Historiker Carlo Ginzburg. Der 1939 in Turin geborene Wissenschaftler widmete einem Tag im Leben eines Müllers ein ganzes Buch. Dieses erschien 1976 unter dem Titel „Der Käse und die Würmer – Die Welt eines Müllers um 1600″.
Das 1963 von Eward P. Thomspon veröffentlichte, bereits angesprochene Werk „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“ wird bis heute von Historikern und angehenden Historikern gelesen. Darin lässt Thompson eine bis dahin fast vergessene Bewegung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wieder aufleben. Er nutzt dafür Erfahrungen der damals lebenden Menschen aus der Arbeiterklasse.
Dabei kommt er zu dem Schluss, dass diese nicht nur Opfer waren. Nach seiner Ansicht hat die englische Arbeiterklasse ebenso zu ihrer Stellung beigetragen. Sie war an ihrer Erschaffung demnach selbst ebenso beteiligt, wie sie von außen erschaffen wurde.
Zur Alltagsgeschichte gehören verschiedene Bereiche, die natürlich auch in anderen Disziplinen der Geschichte aufgegriffen werden. Dennoch finden diese Aspekte in dieser Disziplin eine besondere Bedeutung und liefern letztlich den Erkenntnisgewinn.
Unbewegliche Geschichte
Unter der unbeweglichen Geschichte werden geschichtlich wenig relevante Dinge verstanden. In späteren Untersuchungen werden dieser daher kaum beachtet.
Zur unbeweglichen Geschichte können sehr kleine, politische Strömungen zählen, die ihre Umwelt auf den ersten Blick kaum beeinflussen. Außerdem gehören Ernährung und Kleidung häufig dazu. Sexualität war ebenso lange Zeit ein kaum betrachteter Aspekt in der Geschichte.
Bereiche der unbewegten Geschichte können auch zur Alltagskultur gezählt werden. Die Übergänge sind dabei teilweise fließend.
Alltag
Die Alltagsgeschichte geht davon aus, dass der Alltag der häufig wenig betrachteten „kleinen Leute“ großen Einfluss auf geschichtliche Verläufe haben kann. Menschen handeln auf Basis ihrer alltäglichen Erfahrungen. Diese müssen im Einzelnen nicht viel Gewicht haben. Mit der Zeit kann sich aber etwas in ihnen aufbauen, das sich am Ende beispielsweise in einem Protest entlädt.
Die Alltagsgeschichte sucht die Ursachen für diesen Prozess also im vergangenen Alltag der Protestler.
Kultur
Unter dem Begriff „Kultur“ versteht die Alltagsgeschichte in diesen Fall nicht die organisierte Kultur in Form von Kunst. Stattdessen bedeutet Kultur hier, wie sich Personengruppen voneinander unterschieden. Diese Kulturform heißt daher auch Volks- oder Alltagskultur.
Gerade bei sozialer Ungleichheit können gut sichtbare kulturelle Unterschiede zum Vorschein kommen. Diese müssen nicht immer negativ sein. Sie können von den Menschen unbewusst dazu genutzt werden, sich von anderen Gruppen abzuheben.
Zur Alltagskultur gehören Bereiche wie Autos, Werbung, Kino sowie die Esskultur, Mode und Design. Auch Alltagsgegenstände wie Werkzeuge zählen dazu.
In der Alltagsgeschichte wird viel mit persönlichen Gegenständen wie Fotos, Tagebüchern oder Briefen gearbeitet. Auch die Oralhistorie, also Aussagen von Zeitzeugen, sind ein wichtiger Bestandteil.
Aus diesem Grund ist die Alltagsgeschichte nicht überall beliebt. Man wirft ihr beispielsweise vor, naiv den Aussagen Einzelner zu glauben, anstatt den großen Zusammenhang in den Vordergrund zu rücken. Gerade bei Zeitzeugen heißt es, dass diese ihre Rolle in der Geschichte womöglich überschätzen und romantisiert oder übertrieben wiedergeben.
Die kritischen Stimmen kommen vor allem aus der Sozialgeschichte. Das ist nicht verwunderlich, da diese beiden Strömungen Geschichte unterschiedlich untersuchen wollen.
Des Weiteren entstand die Alltagsgeschichte aus dem Wissensdurst von Laienhistorikern heraus. Es ist daher möglich, dass sich manche professionelle Historiker aus diesem Grund von der Alltagsgeschichte abgrenzen möchten. Mittlerweile gilt diese allerdings als das Bindeglied zwischen dem „echtem“ Historiker und dem Laien.
Zusammenfassung
- Alltagsgeschichte ist ein besonderes Konzept innerhalb der Geschichtswissenschaft. Ziel dieses Konzepts ist es, die Lebensumstände, den Alltag und Wahrnehmung der Menschen, welche in einer bestimmten geschichtlichen Epoche lebten – zu untersuchen.
- Dadurch soll versucht werden, Teile der Gesellschaftsgeschichte – welche sich mit Berufen, Ständen und sozialen Klassen beschäftigt – stärker zu präzisieren.
- Der Erkenntnisgewinn wird durch die Untersuchung von Bildern, Literatur, Esskultur oder Mode hergestellt.
- Dabei soll, anders als in anderen Konzepten, nicht die Umwelt der Menschen abgebildet werden. Stattdessen soll die Wahrnehmung des Menschen auf seine Umweltbedingungen rekonstruiert werden.
Literatur
- Edward P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, ISBN: 3518111701*
- Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer – Die Welt eines Müllers um 1600, ISBN: 3803128196*
- Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, utB GmbH, ISBN: 3825250059*
- Stefan Jordan: Lexikon Geschichtswissenschaft: Hundert Grundbegriffe (Reclams Universal-Bibliothek), ISBN: 3150005035*
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